„Ich bringe die Unternehmen dorthin, wo sie hingehören“

Dr. Sebastian Bartel im Interview

Berater gibt es wie Sand am Meer. Aber keinen, der so viel Verantwortung trägt wie Sebastian Bartel. Oder kennen Sie einen McKinsey-Mann, der mit 75 Tonnen Gewicht unter dem Hintern und 6000 Liter Kerosin an Bord in der Luft ist? Im Interview spricht der Hybrid-Berater (er berät und fliegt) darüber, warum 80 Prozent aller Firmen ineffizient arbeiten und wieso Prozesse wie „Change“ für die Katz sind. Bartels „Befehl“ an die Chefs: Gebt den Mitarbeitern endlich ihre Arbeit zurück. Darüber hinaus spricht der Frankfurter Ironman darüber, wie er seine Portion Demut im Leben erhielt. Denn seine größte Schmach wurde live im Fernsehen übertragen Herr Bartel, seit 25 Jahren sind Sie Lufthansa-Kapitän, nebenbei Berater. Warum sollte ein Konzern ausgerechnet Sie, der die Hälfte seiner Arbeitszeit für den Kranich-Konzern in der Luft ist, anheuern?

Weil ich das lebe, was ich vermittle. Schauen Sie: Vieles läuft bei der Lufthansa und anderen Fluglinien nach Plan, vieles aber auch nicht. In genau solchen Fällen – bei einem Triebwerkschaden 10000 Meter über dem Ozean – muss ein Pilot funktionieren. Wir sollten nicht vielleicht funktionieren, wir müssen funktionieren. Ansonsten steht ein Super-GAU bevor. Fliegen ist für uns Verpflichtung, nicht Cheeseburger machen.

 

Was meinen Sie mit „Cheeseburger machen“?
Jeder Cheeseburger schmeckt auf diesem Planeten gleich. Deshalb ist die Produktion hoch-effizient geplant, gesteuert und standardisiert. Agilität wäre Verschwendung.

 

Stopp! Bitte kein Berater-Deutsch …
Ok, ich versuche es (grinst). Obwohl wir immer die gleichen Routen fliegen, ist kein Flug wie der andere. Deshalb reicht Planung an Bord und in vielen modernen Unternehmen nicht aus. Die Teams selbst müssen von inneren heraus Lösungen erarbeiten.

 

Ohne Capitano?
Mit! Er muss zum einen schauen, dass die Teams autark arbeiten. Auf der anderen Seite muss er die Verbindungen und die Kommunikation zwischen den jeweiligen Abteilungen verbessern. Oft ist es jedoch so, dass Abteilung A mit Abteilung B nicht spricht. Das geht nicht. Arbeiten ist ein Mannschaftssport. Wenn im Sturm des FC Bayern vorne Thomas Müller überlaufen wird, die gegnerischen Offensivspieler auf die Bayern-Abwehrkette zustürmen, können die Bayern-Verteidiger auch nicht sagen: „Thomas, wenn Du Deinen Job nicht machst, dann mache ich auch nicht mit.“ Teamgeist ist gefragt.

 

Was ist, wenn etwas passiert, was nicht passieren soll?
Dann müssen wir die Lage binnen Sekunden analysieren, bewerten und das Problem lösen. Und nun zu Ihrer Eingangsfrage zurück: warum ausgerechnet ich? Ich habe in den 25 Jahren Luftfahrtindustrie und 15 Jahren in Beratung sowohl praktisch als auch theoretisch alle möglichen Szenarien durchgespielt. Und gelöst.

 

Noch mal: warum ausgerechnet Sie?
Weil ich einen riesigen Vorteil gegenüber den Beratern von McKinsey & Co. habe. Bitte verstehe Sie mich nicht falsch: Das sind alles hochgeschätzte und hochkompetente Kollegen. Keiner von denen stand jedoch schon mal in der Verantwortung, die kroatische Hafen-Stadt Split bei dem größten Unwetter aller Zeiten anzufliegen – mit 75 Tonnen Gewicht unter dem Hintern, 6000 Liter Kerosin und 200 Menschen an Bord. Machen wir auch nur einen einzigen Fehler, stehen Hunderte Menschenleben auf dem Spiel.

 

Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen guten Piloten aus?
Zuverlässigkeit, Vertrauen, Entscheidungshoheit. Das ist aber nur die Pflicht.

 

Haben Sie mir ein Beispiel für diese Pflicht?
Ich habe im Jahr 2013 mal 30 Passagiere am Gate stehen lassen.

 

Was?
Das war ein Flug von Frankfurt nach Amman, Jordanien. In Frankfurt war ein heftiges Gewitter im Anmarsch und ein Blitz hatte die Flugsicherung im Süden Frankfurts lahmgelegt.  Die einzige Möglichkeit, die ich in der Sekunde auf dem Rollfeld hatte, war, drei Dutzend Leute nicht mitzunehmen und stattdessen sofort über Paris nach Jordanien zu fliegen. Also erst in den Westen zu fliegen, um dann in den Osten zu kommen. Und genauso habe ich es gemacht. Nach der Ankunft in Frankfurt am nächsten Tag rief mich mein Chef wutentbrannt und irritiert an. „Was um Himmels willen haben Sie gemacht“, fragte er sichtlich aufgeregt.

 

Ihre Antwort?
Ich erklärte ihm ganz in Ruhe, dass ich das Große und Ganze im Blick hatte.

 

Was meinen Sie damit?
Ich habe 170 Passagiere nach Jordanien geflogen, auf dem Rückweg wieder 200 Gäste retour genommen. Unter dem Strich und nur das war für mich entscheidend, hatte ich 370 sehr zufriedene, superglückliche Gäste. Hätte ich hingegen beim Abflug noch länger gewartet, hätte mir die Flugsicherheitsbehörde Langen das Abheben untersagt. Hätte ich gewartet, hätten wir 400 superunglückliche Gäste und nicht „nur“ 30. Natürlich tat es mir für um jede und jeden, der nicht mitfliegen konnte, leid.

 

Und was hat Ihr Chef gesagt?
„Das war eine sehr gute Entscheidung, Sebastian. Eine sehr gute!“

 

Die Pflicht habe ich verstanden. Was ist mit der Kür?
Die Kür ist Sicherheit trotz Unsicherheit bei allen Beteiligten an Bord und im Cockpit aufzubauen. Sie müssen wissen: Es gibt Menschen, die verhalten sich wie Hühner, wenn der Fuchs in den Stall reinkommt. Das ist absolut „menschlich“ und nachvollziehbar, schließlich gibt es Situationen in der Luft, in der es um Leben und Tod geht. Natürlich hat auch mal ein Pilot Angst. Zeit, diese auszuleben, haben wir jedoch nicht, die müssen wir für später aufheben und wir sind gut vorbereitet. Viele Unternehmen hingegen nicht.

 

An was machen Sie das fest?
Gegenfrage: Haben Sie schon mal eine Bergtour gemacht?

 

Na klar.
Und was nehmen Sie mit auf den Berg?

 

Essen, Trinken, Schlechtwetterkleidung.
Viele Unternehmen planen aber nur mit Sonnenschein. Sobald dann mal ein Unwetter droht, sind sie aufgeschmissen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Firmen nur mit blauem Himmel, kurzer Hose und Shirt planen. Da ist weder eine Sonnencreme dabei, von Sicherheitsequipment brauchen wir erst gar nicht sprechen. Deshalb haben wir an Bord immer einen Plan A, Plan B und Plan C. In dem Moment, wo etwas passieren könnte, muss ich die richtige Flughöhe einschätzen, die beste Anflugschneise suchen, vor allem aber Ruhe und Kontrolle bewahren. Das ist aber noch nicht alles.

 

Was noch?
Gleichzeitig muss ich mein Handeln und meine Entscheidungen selbst reflektieren. Ich bin sozusagen mit meinem Co-Piloten mein eigenes Kontrollsystem. 

  

Ein Held in der Luft.
Ich habe Verantwortung für die Menschen im Flugzeug, keine Zeit für Heroismus. Im Ernst: Helden gibt es in Comics aber nicht an Bord eines Flugzeuges von über 100 Millionen Euro. Und mit Verantwortung meine ich Räume zu öffnen, damit Könner neue Ideen einbringen und wir zusammen als Mannschaft schwierige Probleme lösen. Das macht auch Spaß!

 

Was meinen Sie mit Räume öffnen?
Oft weiß der Chef doch gar nicht, was seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den ganzen Tag so machen. Daher sollte er seinen Kollegen*innen Leitplanken für sein oder ihr Handeln geben, ihm oder ihr vertrauen. In fast 99 Prozent aller Fälle danken es die Mitarbeiter*innen mit tollen Leistungen, weil sie endlich eigenverantwortlich handeln können. Natürlich können Fehler in diese  „Schutzräumen“ passieren, sollen sogar passieren. Nur wenn man jedoch Fehler macht, bringt es einen weiter. Und die Firma.

 

Sie beraten Unternehmen, wie Sie wieder mehr PS auf die Straße bekommen. Was haben Sie selbst bei der Lufthansa verändert?
Tag täglich verhindere ich immer mehr „Blindleistungen“. Was nützt es dem einzelnen Lufthansa-Kunden, wenn ich am Boden ständig unnötige Reports über dieses und jenes Thema schreiben muss, anstatt das zu tun, für das ich bezahlt werde. Fliegen!

 

Wie viel arbeiten Sie in der Luft und wie viele Tage auf dem Boden?
Durchschnittlich sitze ich zehn Tage im Cockpit, zehn Tage bei den Unternehmen.

 

Seien Sie ehrlich: Was macht mehr Spaß?
Die Beratung. Das liegt daran, dass wir immer mehr in ein Korsett mit Regeln, Anweisungen und Pflichten geschnürt werden. Das ist absolut richtig und wichtig, denn Sicherheit beruht auf Erfahrungswissen und ist unser höchstes Gut. Bei der Beratung kann ich jedoch verkrustete Strukturen aufbrechen, Kulturen, Einstellungen und Philosophien von Hunderten von Menschen verändern. Ich bewirke was, anstatt etwas abzuarbeiten.

 

Sind Sie so eine Art Feuerwehrmann?
Ich werde meist dann gerufen, wenn die Entwicklung des Unternehmens stagniert, die Führungskräfte nicht mehr weiterwissen. Das, was ich in den vergangenen 15 Jahren festgestellt habe, ist, dass die Menschen, die tagsüber ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, keine Lust mehr haben, ihre Tage weiterhin zu vergeuden. Sie wollen wieder arbeiten, sie wollen wieder das Gefühl haben, gebraucht zu werden und den Beitrag ihrer Arbeit für das große Ganze – den Sinn Ihrer Tätigkeit – sehen. Und nicht an der 38536 Power-Point-Präsentation zu sitzen, die am Ende eh‘ kein Mensch zu Gesicht bekommt.

 

Ist das so?
Oft verlangt der Chef eine Armada an Power-Point-Präsentationen und Excel-Tabellen. Hier muss eine Skala neu blau gefärbt werden, hier noch ein Bildchen eingefügt werden. Ich frage die Verantwortlichen immer: „Was ist bei diesen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen genau der ,Return on invest`?“

 

Und?
Als Antwort erhalte ich von den Verantwortlichen oft ein Schulterzucken, meist lange Gesichter. Ich sage Ihnen dann, dass sie Leute bezahlen, die sich den ganzen Tag um sich drehen, anstatt die Company nach vorne zu bringen. Würden sich hier die ganzen Herrschaften von Abteilungen mal wieder um die Bedürfnisse ihrer Kunden kümmern, würde sich das sofort im nächsten Quartalsergebnis bemerkbar machen. Mir ist natürlich klar, dass das nicht für die Finanz- oder Personalabteilung gilt. Dennoch ist die Arbeit, die viele machen, oft für die Katz.

 

Was passiert, wenn Sie eingreifen?
Dann steigt das Selbstwertgefühl der Menschen explosionsartig an, sie sind wieder motiviert, wissen, warum sie einmal bei diesem Konzern angefangen haben zu arbeiten. Unter dem Strich sorge ich dafür, dass die Kundenprobleme wieder angepackt werden, die Wertschöpfung wieder funktioniert und damit löst sich die Demotivationsphasen der Mitarbeiter von selbst auf. Ich bringe das Unternehmen dorthin, wo es hingehört. Allerdings mit einem unkonventionellen Bezahlmodell.

 

Was ist bei Ihnen anders?
Ich will nicht Berater einer Führungskraft sein, sondern sein Sparringspartner. Ich will, dass mir die Gründer und Geschäftsführer vertrauen. Und zwar zu 100 Prozent. Denn nur wenn ich jemand vollends vertraue, nehme ich dessen Ratschläge an, setze sie um.

 

Wie berechnen Sie ihr Salär?
Wenn ich es beispielsweise schaffe, dass ein Mitarbeiter nicht mehr jeden Tag zwei Stunden für den Papierkorb arbeitet, dann rechne ich diese Ersparnis auf das ganze Jahr und seinem Gehalt hoch. Von dieser Kostenersparnis im ersten Jahr berechne ich 20 Prozent. Plus Mehrwertsteuer.

 

Machen das andere auch?
Nein, die Beraterfirmen holen nur ihre Schablonen aus der Schublade und stülpen diese dem betroffenen Unternehmen über. Sie verkaufen die „Bestpractice“-Rezepte wie schon vor 20, 30 Jahren. Aus den Unternehmen, die sie beraten haben, habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie ausschließlich an Symptomen arbeiten, nicht an den Ursachen. Kurzfristig wird dem Unternehmen zwar geholfen, aber nicht langfristig. Schauen Sie, ich habe jahrelang für den Ironman trainiert. Ein Ironman besteht aus 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und einem Marathon am Schluss. Ganz am Anfang saß ich bei der längsten Disziplin, dem Radfahren, völlig falsch auf meiner Rennmaschine. Ich hatte taube Hände und schmerzende Knie. Also bin ich zum Rad-Labor gegangen. Die haben mich erst mal richtig vermessen, dann mein Rad auf mich richtig eingestellt.

 

Alles eine persönliche Einstellungssache?
Ich kann doch nicht meine persönliche Werte auf die meines Trainingspartners übertragen. Und genau das machen die großen Unternehmensberatungen. Sie gehen partout einfach nicht auf die Bedürfnisse ihres Kunden ein. Ihr System stammt aus den 80er-Jahren. Seitdem hat sich aber so viel verändert, nur nicht die Berater-Konzepte.

 

Was ist der Unterschied zwischen Ihnen und McKinsey?
Ich suche zusammen mit dem Unternehmer nach individuellen Lösungen, die dann einen echten Unterschied machen. Wichtig: Die Verantwortlichen haben kein Risiko. Null Komma null.

 

Das verstehe ich nicht.
Nur wenn ich meinen Job gut mache und das Unternehmen durch mich und meine Arbeit profitiert, nehme ich einen Auftrag an. Nehmen Sie Uli Hoeneß, den Erfolgsvater des Fußball-Rekordmeisters FC Bayern. Er sagte immer, dass er den langfristigen Erfolg für den Verein vor Augen habe, weg vom angelsächsischen Denken. Dieses basiert im Wesentlichen nur auf dem kurzfristigen Erfolg, dem Quartalserfolg. Ebenso steht Heiner Oberrauch, Chef des weltgrößten Bergsport-Konzerns Salewa, dafür.

 

Der Südtiroler führt seine Gruppe seitjeher „enkeltauglich“.
Das bedeutet, dass er alle Entscheidungen mit der Prämisse trifft: Wie sind die Auswirkungen in 20, 30, 40 Jahren? Das Problem unserer Zeit ist meines Erachtens das kurzfristige Denken. Das ist der große Unterschied zwischen inhabergeführten Unternehmen, sie denken in Generationen und nicht, wie es die Politik oder Vorstandschefs von börsennotierten Unternehmen tun. Sie müssen die nächste Wahl gewinnen, das beste Quartalsergebnis der Geschichte vorweisen.

 

Und wenn Sie keinen guten Job machen? Gehen Sie leer aus?
Bekomme ich nix, richtig. Ich denke, das ist mehr als fair. Ich kann mich dafür jeden Tag im Spiegel anschauen. Die anderen Berater hingegen werden oft nur geholt, um das auszusprechen, was die Konzernchefs sich nicht trauen auszusprechen: Das geht von radikalen Sparmaßnahmen, Werksschließungen bis hin zu Entlassungen.

 

Sind Sie schon mal leer ausgegangen?
Nein. Dennoch gehe ich an jeden Auftrag mit einer riesigen Portion Demut ran.

 

Wo haben Sie die gelernt?
Vom Sport. Er lernt einen das Scheitern. Ich kann mich noch an meinen ersten Ironman in „Wanaka“ in Neuseeland erinnern. Es war kalt, nass, eklig. Dennoch war ich optimistisch, als ich meine Konkurrenten so sah. Die sehen aber nicht fit aus, dachte ich. Wenige Minuten später sollte sich der Gedanke rächen. Ich war zu großkotzig, dachte, dass ich die alle im Rennen panieren werde. Mehr noch: Ich rechnete mir einen Platz auf dem Podium aus, vielleicht sogar mehr. Ganz nach dem Motto: „Der Sieg ist Deiner Sebastian!“

 

Und dann?
Meine Hybris hielt 20 Minuten in dem kalten See, dann war das Thema erledigt. Ich signalisierte, dass mich das Rettungsboot holen sollte. Statt diesem kam jedoch ein Jet-Ski angefahren, der mich aufgabelte. „Sorry“, sagte der Retter zu mir. „Why are you sorry?“ Ich verstand die Frage nicht. Überhaupt nicht. Dann erklärte er mir grinsend, dass ich der Erste war, der nicht finishte und mein Scheitern gerade in ganz Neuseeland übertragen wurde. Und zwar live von dem Heli, der gerade über uns kreiste (lacht).

 

An was lag es?
An der klassisch-männlichen Selbstüberschätzung und der schlechten Trainingsvorbereitung. Das war wirklich der wichtigste Lernprozess in meinem Leben. Seitdem habe ich die deutschen Tugenden aber so was von verinnerlicht: Fleiß, Disziplin, Gründlichkeit. Diese setze ich seitdem Tag vor neun Jahren jeden Tag um.

 

„Mein neues Ziel ist die Prozessoptimierung. Ich liebe es einfach, besser zu werden im besser werden“, sagt Triathlon-Weltmeister Jan Frodeno. Sie auch?
Ein Spitzensportler wie Jan Frodeno muss an sich denken. Jemand wie ich aber auch andere. Und deshalb habe ich bei meinen Ironman auf Hawaii, das war 2013, den Triathlon als ein Projekt gesehen, als Spenden-Projekt. Jeder konnte während des 10,5-stündigen Wettkampfs „Kilometer“ ersteigern. Dabei kam so viel zusammen, dass wir in Jumansar – das ist ein Dorf in Gambia – eine Solarpumpe kauften, damit die Menschen endlich wieder genug zu ernten hatten. Das ist meine Art der nachhaltigen Prozessoptimierung.

 

Sie scheinen nach Ihrem „Arroganz-Anfall“ dazugelernt zu haben. Was haben Sie in den letzten Wochen gelernt, was Sie bisher noch nicht so gut konnten?
Zuhören. Wenn mein Co-Pilot auf dem Weg nach Oslo einen Vorschlag hat, dann höre ich mir das als Kapitän selbstverständlich an. Ob ich diesen dann umsetze, ist ein anderes Thema. Den Satz „das haben ich immer so gemacht …“ gibt es bei mir nicht.

 

Weil Stillstand Rückschritt ist?
Wie soll ich neue Wege beschreiten, wenn ich immer nur auf alten Pfaden gehe? Leider ist das in vielen Unternehmen so. Der Chef hat das Sagen, alle andere müssen ihm folgen – wie Lemminge. Oft werden Widersprüche nicht geduldet, Anregungen oder Vorschläge ignoriert. Wenn ich das feststelle, weiß ich, dass der Geschäftsführer angezählt ist. Denn oft liegt ein Sinn in seinem Verhalten, ob er es merkt oder nicht. Für mich ist es entscheidender, die Strukturen, die Regeln und die Kultur anzuschauen, statt die Situation an einem Menschen festzumachen: Dann finde ich zumeist die wirkliche Ursache, das Unternehmen einen echten AHA-Moment.

 

Liegt das an der Ignoranz?
Einerseits würde ich sagen, dass mit einer „veralteten Brille“ auf das Problem geschaut wird, die für die hochdynamische Welt keinen klaren Blick erlaubt, sie stellt zu langsam scharf. Andererseits an den Produktzyklen. Genauso wie der Fußball immer schneller wurde, ist es in der Industrie. Können Sie sich noch an die WM 1990 erinnern, als wir Weltmeister wurden. Wenn Sie sich die Spiele heute anschauen, denken Sie, dass Deutschland gegen Holland gerade in Slow-Motion gezeigt wird. Nicht anders ist es in der Deutschland AG. Ein Bertelsmann-Club, der früher noch Bücher wie geschnitten Brot verkaufte, wurde von Amazon überrannt. Man kann auch sagen: totgetrampelt.

 

Wie ist das zu verhindern?
Viele Verantwortliche sind der Meinung, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Sie steuern ihr Unternehmen mit vielen Managementpraktiken wie der „Balance Score Card“ oder mit Budgets von oben nach unten durch. Wenn sich ein Mitarbeiter aber Tag für Tag mit einem Thema beschäftigt, ist die Chance, dass er sein Fachgebiet beherrscht und überblickt, sehr hoch. Warum höre ich als Konzernlenker dann nicht auf diesen Mitarbeiter, der auf sein Gebiet Experten ist? Das führt zwangsweise zu einer chronischen Unzufriedenheit der Mitarbeiter*innen.

Die Lösung?
„Lasst doch die Menschen, die Könner auf ihrem Gebiet sind, Euer Unternehmen nach vorne bringen“, sage ich zu den Verantwortlichen. Wenn ich das als Chef verhindere, wird er oder sie langfristig aufgeben. Das würde jeder machen, wenn einem nicht vertraut wird.

 

Was sollten die Führungskräfte machen?
Den Kollegen endlich – und das sage ich gebetsmühlenartig – Vertrauen und Freiheit schenken. Oder gleich die Verantwortung auf die Mitarbeiter übertragen und dezentral die nötigen Entscheidungen treffen lassen, damit sich das Unternehmen flexibel an eine dynamische Umwelt anpassen kann.

 

Ist der beste Manager der, der gar nicht existiert?
Die These von Frédéric Laloux, dem Wirtschaftsphilosophen. Das Team muss nur das machen, was ihr Vorgesetzter gemacht hat: Leute anheuern, Konflikte lösen, die Firma nach außen vertreten. Diese Aufgaben kann das Team übernehmen, warum nicht?

 

Was spricht dagegen?
Wie oft habe ich schon gehört: „Herr Bartel, leider können meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen keine Verantwortung übernehmen.“

 

Und dann?
Dann frage ich zurück, wie er denkt, dass ein Mitarbeiter wie der Herr Mayer es schafft, gerade sein Haus ohne ihn zu bauen. Wie die Frau Müller es hinbekommt, sich sechs Wochen durch den Dschungel zu kämpfen? Den einen leuchtet das ein. Andere hingegen sagen mir, dass sie den Gedanken mal „mitnehmen“ wollen. Mein Einwand: „Entweder sie wollen, dass ihre Mitarbeiter selbstverantwortlich arbeiten. Oder sie können sie gleich kündigen! Denn wenn Sie kein Vertrauen haben, sollten sie auch für Sie nicht arbeiten.“ Den guten alten Grönemeyer-Song umgemünzt: „Gebt den Mitarbeitern das Kommando.“

 

Wer macht es besser?
Die Drogeriemarkt-Kette „dm“. Nicht das Headquarter sagt, was die einzelne Filiale zu bestellen hat, sondern die Filiale selbst. Es macht schließlich einen Unterschied, ob die Filiale im Frankfurter Bahnhofsviertel ist oder in Hamburg-Eppendorf.

 

Können Sie das bitte konkretisieren?
Wenn ein Kunde der Eppendorfer Filiale ständig vegane Riegel fordert, ist die Chance, dass ich dort gute Geschäfte mit veganen Riegeln mache, hoch. Eine bessere und günstigere Marktforschung als die eigenen Mitarbeiter gibt es ja nicht. Der Tanker, also der Konzernsitz von „dm“, ist in Karlsruhe. Und dann gibt es noch die Hunderte von Schnellbooten, also die einzelnen Filialen in der ganzen Bundesrepublik.

 

Braucht es einen Kapitän in einem Sportboot?
Nicht zwingend. Das hängt auch davon ab, ob das Team einen will oder nicht. Auch das würde ich jedes einzelne Geschäft für sich entscheiden lassen. Vielleicht wollen ja einige gar nicht den Chef spielen, sondern um acht kommen und um fünf gehen. Das ist zwar nicht meine Arbeitsauffassung, aber eine legitime. Viel wichtiger als eine Arbeitsauffassung ist jedoch die Kultur eines Unternehmens. Will ich diese verändern, reicht es nicht aus, Pro-forma-Prozesse wie „Change“ oder „New Work“ ins Leben zu rufen. Fast alle sind Beispiele für blutleere Programme. In einem verstaubten Verlagshaus „Tischtennisplatten“ wie im Silicon Valley aufzustellen, macht keinen Sinn.

 

Warum?
Weil ein verstaubtes Verlagshaus ein verstaubtes Verlagshaus bleibt. Deswegen sind auch zwei Drittel aller „Wir-ändern-heute-mal-schnell-unsere-Kultur“-Programme nutzlos.

 

Wieso sind Sie gegen die Veränderungen?
Ich bin der größte Freund von Veränderungen. Es bringt aber nichts, Claims an die Wand zu projizieren. Dadurch wird weder der Wettbewerb noch das Produkt besser.

 

Die Lösung?
Die Lenker sollten die Begehrlichkeit ihrer Produkte steigern, auf ihre Mitarbeiter hören.

 

„Deutschland ist Frust-Weltmeister“, schreibt der SPIEGEL. Nirgendwo gehen die Menschen so lustlos zu Arbeit wie hierzulande.
Genauso frustrierend sind die Meetings. Das kam durch Corona ans Licht.

 

Wie meinen Sie das?
Viele Partner haben daheim mitbekommen, was ihre Frauen oder Männer in den Calls so zu besprechen haben. Da geht es wirklich darüber, ob diese oder jene Power-Point-Präsentation wirklich gut genug sei. Oft sind das dann nur interne Dokumente, die niemals ein Kunde sehen wird. Dennoch wird dreieinhalb Stunden darüber gesprochen und diskutiert. Würden die Menschen stattdessen die Produkte verbessern, würde der Punk abgehen. Einerseits ist das erschreckend, anderseits auch für mich gut (grinst). Mit meiner Erfahrung gehe ich in die Unternehmen rein, analysiere alles en détail und erarbeite zusammen mit den Verantwortlichen anhand konkreter Situationen, wo es gerade läuft. Und wo nicht.

 

Was denken Sie? In wie viel Prozent aller Unternehmen läuft es rund?
In 20 Prozent, in 80 Prozent aller Firmen ächzt und kracht es ganz schön unter dem Gebälk.

 

Was ist Ihr Versprechen an die Verantwortlichen?
Dass ihr Geschäft mit mir wieder „fliegen“ wird. Ich sage ihnen klipp und klar, wenn die Kultur nicht zur Wertschöpfung passt, was genau die Ursachen für ihre Misere ist und wie sie endlich wieder Wind unter ihre kaputten Flügel bekommen.

 

Gibt es eigentlich eine gute und eine schlechte Kultur?
Die Kultur ist wie das Gedächtnis des Unternehmens und darf dem Lösen von Kundenproblemen nicht entgegenstehen. In vielen Fällen laufen die Verantwortlichen mit Scheuklappen herum. Sie wissen gar nicht, für was sie stehen. Und deshalb komme ich. Ich schaue ganz genau hin. Welche Regeln gibt es? Wie sind die Prozesse? Nach der Bestandsaufnahme bespreche ich dies mit den Verantwortlichen. Zusammen gehen wir meine Vorschläge, wie wir Regeln und Prozesse optimieren können. Und machen wir uns nichts vor: Mein Job ist es, die Wertschöpfung des Unternehmens zu steigern. Daran werde ich gemessen.

 

Und was verpassen die Unternehmen, die Sie nicht buchen?
Die bleiben wie Flieger bei meinem Ammann-Beispiel am Boden. Sie können sich für superglückliche 370 oder 400 superunglückliche Gäste entscheiden.

 

Konkret: Was ist Ihre wichtigste Botschaft?
Die ist so einfach, das glauben Sie gar nicht. Etwas frotzelnd frage ich die Führungskräfte nach der ersten Bestandsaufnahme immer und immer wieder: „Was halten Sie eigentlich davon, dass Sie endlich mal anfangen, alle zusammen als Mannschaft zu arbeiten?“

 

Herr Bartel, herzlichen Dank für das Gespräch.